Hintergrund

Reinsberger Vogelschießen – Ursachen für Entstehung

In den Jahren um 1790 lebten in Kursachsen überwiegend Bauern. Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung waren Städter, die sich mit Handwerk, Handel und Bergbau beschäftigten. Verschwindend klein war der Anteil der kirchlichen und weltlichen Adels. Etwa die Hälfte aller Dörfer unterstanden dem Kurfürsten, der sie durch Ämter verwalten ließ. Die andere Hälfte gehörte Rittergutsbesitzern.

Die städtischen Bürger waren durch den Handel und den Bergbau teilweise sehr reich geworden. An ihrem hohen Lebensstandard, dem ihnen zugänglichen Komfort und Luxus und an der Lebensweise der großen Herrscherhäuser orientierte sich der Landadel. Geld war in großer Menge nötig, um die rauschenden Feste und Jagden auszurichten, Schlösser und Burgen auszubauen oder neu zu errichten und die Unmasse von Luxusgegenständen zu kaufen, die zum Hausrat eines Rittergutssitzes gehörten. Ursprünglich waren die Rittergüter höchstens zwei- oder dreimal so groß wie größere Bauernhöfe. Damit ließ sich aber Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr genügend Geld erwirtschaften, um standesgemäß leben zu können, auch wenn die Rittergüter im Gegensatz zu den Bauernhöfen steuerbefreit waren. Hier mußte mehr Land beschafft werden.

Alles Land außerhalb der Rittergutshöfe war aber Bauernland. Die Rittergutsbesitzer wandten nun allmögliche, meist hinterhältige oder gewaltsame Methoden an, um die Bauern um ihr Land zu bringen. Vielfach nutzten sie finanzielle Engpässe bei den Bauern, um sie immer weiter zu verschulden, bis die Bauern von allein ihre Höfe aufgaben. Im Volksmund nannte man das “Bauernlegen”. Auf diese Art und Weise vergrößerten sich zwar die Rittergutshöfe – es fehlten ihnen aber noch die Arbeitskräfte, die dieses Land bearbeiteten. Die Rittergutsbesitzer benutzten dafür wiederum die Bauern. In den früheren Jahrhunderten hatten sich die Rittergutsbesitzer für die Bauern um die Landesverteidigung zu kümmern und konnten dafür als Gegenleistung von den Bauern Frondienste erwarten. Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Kriege von Söldnerheeren des Landesherrn, in Sachsen also durch die Armee des Kurfürsten Friedrich August geführt. Der ursprüngliche Sinn des Frondienstes existierte damit nicht mehr. Trotzdem dehnten die Rittergutsbesitzer ihre Frondienstforderungen sogar noch erheblich aus. In manchen Fällen mußten die Bauern bis zu fünf Tage in der Woche auf´s Rittergut. Neben den Feld- und Stallarbeiten mußten sie ihre Kinder oft für mehrere Jahre auf´s Rittergut schicken, sie mußten Fuhrdienste leisten, Feuerholz für die Herrschaften machen, Botschaftlaufen, in den Gärten und Parks arbeiten, Baudienste leisten, die Kinder zum Spinnen schicken, Möbel für die Herrschaften fahren u.v.a.m. Den Bauern wurde das Fischen und die Schafhaltung verboten und vorgeschrieben, Bier nur beim Rittergut zu kaufen. Mit den verrücktesten Begründungen wurden ihnen unzählige Steuern auferlegt oder Vorschriften gemacht, so daß es heute verwunderlich erscheint, daß den Bauern nicht schon früher der Kragen geplatzt ist.

Möglicherweise ist das lange Stillhalten der Bauern nur dadurch erklärbar, daß diese widrigen Umstände nicht ruckartig, sondern ganz langsam und Schritt für Schritt zu diesem Stand gekommen waren. Außerdem hatten sich die Rittergutsbesitzer nach und nach die Gerichtsbarkeit angeeignet, die ursprünglich Sache der Dorfgemeinde war. Wollten die Bauern wegen einer Ungerechtigkeit gegen den Rittergutsbesitzer einen Prozeß einleiten, mußten sie praktisch gegen den Richter klagen. Die geringen Chancen der Bauern kann man sich leicht vorstellen, und der Beschwerdeweg zur nächsten Instanz, dem Kurfürsten in Dresden war weit, beschwerlich und ebenfalls selten erfolgreich. Der ganzen vertrackten Situation wurde durch die Schafhaltung der Rittergutsbesitzer die Krone aufgesetzt. Wolle verkaufte sich gut, Weideland war aber zuwenig da auf den Rittergütern. Die Rittergutsbesitzer hatten sich deshalb das Recht genommen, ihre Schafe auf den Ländereien der Bauern einschließlich der Felder zu hüten und das sogar im Frühjahr. Nun stelle man sich einmal ein für heutige Verhältnisse bescheidenes Feld mit gerade aufgekeimter Saat vor, über das eine mehrere hundert Schafe zählende Herde zieht! Und das war 1790 besonders schlimm, da im Frühjahr eine nie dagewesene Dürre alles vertrocknen ließ.

Der jagdbesessene Kurfürst brachte das Faß zum Überlaufen. Er hatte angeordnet, daß das Wild von den Bauern nicht angerührt, ja nicht einmal von den Feldern vertrieben werden darf. Nach den 1790er Akten der Forstbeamten zu urteilen muß eine ungeheure Wildplage in ganz Sachsen den Waldbestand ernstlich gefährdet haben. Sicher ist, daß das Wild natürlich auf die Felder auswich und dort mit Vorliebe die junge Saat vertilgte. Zu Pfingsten des Jahres 1790 versammelten sich in Wehlen die Bauern mit Dreschflegeln, Knüppeln und Gewehren bewaffnet, um das Wild von ihren Feldern und den angrenzenden Wäldern zu vertreiben. Am 02.06.1790 meldet die Forstbehörde, daß zahlreiche Dörfer dieser Gegend die Dienste einstellen und regelrechte Wildtreiben veranstalten, obwohl den Bauern das Betreten der Wälder strengstens verboten sei.

Die Regierung hatte die Situation sofort richtig eingeschätzt und ordnete am 12.06.1790 die Reduzierung des Wildbestandes an. Trotzdem weitete sich der Aufstand schnell aus. Täglich trafen in der Residenzstadt Meldungen über neue Ausschreitungen ein. Anfangs betraf das nur die unmittelbare Umgebung Wehlens, bald aber schon die Gebiete um Stolpen, Dippoldiswalde, Dresden, Radeberg, Oschatz, Torgau und Ende Juli/Anfang August die Gebiete Elsterwerda und Hoyerswerda. Zu Beginn waren es noch einzelne Gemeinden, die für sich allein kämpften. Später schlossen sie sich zur Vertreibung des Wildes zusammen. Sie sprachen ihr gemeinsames Vorgehen untereinander ab. Jedes Dorf wählte eine sogenannte Ausschußperson, die die Verbindung zu den Nachbardörfern aufrechterhalten mußte. Den Umfang solcher Zusammenschlüsse zeigt das Beispiel einer Beschwerdeschrift wegen unverzüglicher Verringerung des Wildbestandes, die von elf Gemeinden unterzeichnet worden ist. Einige Gemeinden beabsichtigten, nach Pillnitz zum Kurfürsten zu ziehen, um die Beseitigung der Wildplage und den Ersatz der daraus entstandenen Schäden zu fordern. Für den Fall, daß Gewalt angewendet werden sollte, sicherten sich mehrere Gemeinden untereinander Hilfe zu.

Nach und nach veränderte sich der Ruf nach Vertreibung des Wildes: Die Bauern wollten sich damit nicht mehr zufrieden, da das Wild auf Dauer nicht von den Feldern fernzuhalten war. Allgemein setzten sie sich nun dafür ein, das Wild selbst abzuschießen. Darin waren die Bauern aber kaum geübt. In vielen Dörfern veranstalteten sie Scheibenschießen, um jeden in die Lage zu versetzen, mit Jagdwaffen umgehen zu können. In Dresden stieg die Nachfrage nach Pulver und Blei ruckartig. Am 17.06.1790 verbot die Regierung daraufhin, größere Mengen von Pulver und Blei an Bauern abzugeben. Die Bauern besannen sich daraufhin auf die gerade aus der Mode gekommene, aber gar nicht so wirkungslose Armbrust. Sie gingen ab Juni 1790 auch verstärkt gegen die Forst- und Jagdbeamten vor, die in größeren Mengen Kartoffeln und Heidekorn aufgekauft und an das Wild verfüttert hatten, obwohl sich unter weiten Teilen der Bauernschaft eine Lebensmittelknappheit ankündigte. Außerdem behinderten diese Beamten den Abschuß des Wildes und versuchten in einzelnen Fällen, die Bauern zu schikanieren. Am 2. Juli 1790 erklärten die Forstbehörden dem königlichen Finanzkollegium, daß sie, “wenn ihnen nicht vor denen durch die Untertanen an ihnen ausgeübt werdenden Mißhandlungen hinlängliche Sicherheit verschafft werde, zu denen zu haltenden Jagden … nicht weiter kommen würden, (da) sie sich von denen zügellosen und boshaften Untertanen, bei solchen Gelegenheiten um´s Leben bringen oder zu einem Krüppel schlagen zu lassen, keineswegs verbunden hielten.”

Den derben Spott der Bauern zeigt eine sogenannte “Trostschrift an die sächsische Jägerei”:

„Ihr Jäger nehmt nun eure Hunde und heult mit ihnen aus Herzensgrunde.
Die Wälder sind nun alle leer, ihr habt nun gar kein Wildbret mehr.
Wie wollt ihr nun zur Jagd gelangen, ihr müßt den Jungfern die Flöhe fangen,
Ja, da gefällt euch stets die Jagd, nach der Besoldung ihr nicht fragt.“

Am 3. Juli schätzte auch der sächsische Vizekanzler von Hopfgarten die Situation richtig ein. Er fordert ebenfalls die Einschränkung des Wildbestandes. Am 10. Juli macht die Regierung Zugeständnisse, indem sie das Jagdprivileg mildert und eine Amnestie für alle im Zusammenhang mit den Unruhen Inhaftierten verkündet. Der Aufstand kam daraufhin in der sächsischen Schweiz zur Ruhe, da der Anlaß, der zu hohe Wildbestand, nicht mehr existierte. In der Wildmeisterei Dresden / Neustadt waren z.B. innerhalb von 14 Tagen 200 Stück Wild erlegt worden. In anderen sächsischen Gebieten, namentlich den Rittergütern um Reinsberg war der Bauernaufstand aber bei weitem noch nicht beendet. Neben der Wildplage bestanden ja noch die anderen Probleme der Bauern, die, verbunden mit den Nachrichten über die Erfolge der französischen Revolution, genügend Zündstoff für einen Aufstand boten. Hier ging der Aufstand im Hochsommer des Jahres 1790 erst richtig los.

In der sogenannten Lommatzscher Pflege, besonders in den wie Reinsberg der Familie von Schönberg gehörenden Dörfern Schleinitz und Petzschwitz, in denen bereits seit 1777 allmöglich Prozesse zwischen den Bauern und den Schönbergern liefen, verweigerten die Bauern am 3. August 1790 den Frondienst. Am 04.08. vertrieben sie die herrschaftlichen Schafherden von ihren Feldern. In den folgenden Tagen schlossen sich die restlichen Dörfer der Schönberger einschließlich Reinsberg an. Am 09.08. beteiligten sich die ersten Dörfer von anderen Rittergütern. Das von der Regierung in die Aufstandsgebiete geschickte Militär wurde von den Bauern entwaffnet. Die Besitzer von Schleinitz und Petzschwitz mußten ihren Verzicht auf jegliche Frondienste und Zinsen schriftlich bestätigen. Mehrere tausend bewaffnete Bauern sammelten sich bei Katzhäuser und befreiten die in den umliegenden Dörfern gefangen gehaltenen Bauern. In Niederbobritzsch öffneten die Bauern ein Wehr, das trotz der anhaltenden Trockenheit das überall fehlende Wasser in den herrschaftlichen Fischteich leitete. Sie stellten Wachen auf und verhinderten damit, daß das Wehr von den Bediensteten des Rittergutes wieder geschlossen wurde. Aus Naundorf sind Protestaufrufe überliefert, in denen die Verjagung des Rittergutsbesitzers gefordert wird. Am 20.08. wurde der Bauernführer Böhme aus Krepta verhaftet und ins Schloß Nossen gebracht. Am 22.08. drangen etwa 300 aufständige Bauern ins Schloß (heute Museum) ein und befreiten ihn. Der Amtmann von Nossen wurde gezwungen, eine schriftliche Erklärung zu unterschreiben, in der er sich verpflichtete, eine weitere Verfolgung zu unterlassen.

Die Regierung merkte bald, daß die Politik der kleinen Zugeständnisse hier nicht weiterhelfen konnte. Sie schickte am 30.08. 5 Bataillone Infanterie, 8 Reiterschwadronen und 200 Grenadiere, also insgesamt etwa 5.600 Mann Militär aus allen Landesteilen in das Aufstandsgebiet. Das war, abgesehen von ein paar Einheiten, die zur Sicherung der Landeshauptstadt abgestellt blieben, nahezu die gesamte verfügbare sächsische Armee. Um die ohnehin nicht sehr starken Regierungstruppen nicht in Einzelkämpfen zu verzetteln, konzentrierte man sich in und um Lommatzsch, das gleichzeitig als Hauptquartier zur Belagerung des Aufstandsgebietes diente. Ein größeres Gebiet im Anschluß an Schleinitz und Petzschwitz wurde besetzt. In Pinnewitz bei Ziegenhain wurden nach einem Kampf mit aufständigen Bauern 200 von ihnen verhaftet und 34 zur Festungshaft auf den Königstein gebracht.

Nach wenigen Tagen war der Aufstand erstickt, weil eine einheitliche Leitung der Bauern fehlte, jedes Dorf seine eigenen Interessen vertrat und das sächsische Bürgertum die Bauern nicht unterstützte. Nach sechs Wochen war der letzte Widerstand gebrochen. Mehr als 100 Zuchthausstrafen wurden verhängt, wobei die Höchststrafen bei etwa vier Jahren lagen, was für damalige Verhältnisse sehr wenig war. Eigentlich stand auf Beteiligung an Unruhen und Aufständen laut kurfürstlicher Verfügung in geringen Fällen das Abschlagen einer Hand, in schweren Fällen aber das sogenannte Rädern, d.h. Brechen aller langen Knochen mit Eisenstangen, bis der Verurteilte so gelenkig ist, daß er in die Speichen eines großen Wagenrades geflochten werden kann. Wer dann noch lebte, wurde so lange im Rad gelassen, bis der Tod eintrat. Die Regierung sah von diesen Strafen ab, um ein erneutes Aufflackern des Aufstandes zu vermeiden. Sinnlos war der Aufstand, der als zweiter sächsischer Bauernkrieg in die Geschichte eingegangen ist, trotz der Niederlage der Bauern nicht. Die Situation der Bauern war der Regierung recht nachdrücklich zu Bewußtsein gebracht worden. Nicht zuletzt durch diesen Bauernkrieg sind die Reforminitiativen in Gang gebracht worden, die dann in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts entgültig die Aufhebung der Leibeigenschaft in Sachsen bewirkten.

Noch viele Jahre nach dem Bauernkrieg wurde das Andenken an die Kämpfe unter den Bauern wachgehalten. Die Teilnehmer an den Unruhen, vor allem die aus der Haft Entlassenen, wurden besonders geehrt, und jede Familie, die einen solchen besaß, war stolz auf ihn. Dieser Stolz war es auch, der die Reinsberger bewogen hat, in Erinnerung an das Jahr 1790 alljährlich ein feierliches Vogelschießen zu wiederholen.

(Nach einem Vortrag von Peter Eichhorn im Jahre 1990)